Spuk
Wie Fritzi sich wünscht, sie hätte diesen verdammten Stein geworfen. Dem Braunen die Stirn geboten. Das Tier auf der Straße früher gesehen ... Das ist ja das Perfide an Schicksalsschlägen – es gibt immer
einen Weg, sich schuldig zu fühlen. Mindestens einen. Wie viel schwieriger es hingegen ist, eine tatsächliche Schuld einzugestehen. Mit der gleichen fiebrigen Energie, mit der sie phantasiert, sie hätte diese oder jene Katastrophe verhindern können, erdenkt sie Ausflüchte, um die Haftung für die großen Verfehlungen ihres Lebens zu leugnen. Da sie aber genau weiß, was sie da tut, fällt sie nicht darauf herein. Was bleibt, ist ein tiefer Unfrieden: Weder als Täterin noch als Opfer fühlt sie sich wohl in ihrer Haut. Fritzi, tagein, tagaus ans Bett gefesselt, hadert, hustet und lebt von Keksen.Abgründe, wohin sie blickt: draußen in der Welt, im Gestern wie im Heute, im Herzen. Vielleicht ist auch alles ein und derselbe Abgrund. Die Schöpfung als Moloch.
Dann der Tag, an dem der Regen aufhört. Das Grabtuch schwerer Wolken und Nebelschwaden über Bjarg wird fadenscheinig und zerreißt, der Wind türmt die Überreste zu formidablen Gebilden: Luftschlösser, von der Sonne beschienen. Beim verächtlichen Beiklang dieses deutschen Worts muss Fritzi lächeln. Sie gebraucht es anders, mit Respekt. Luftschlösser sind etwas Wunderbares. Man kann in ihnen umherspazieren und staunen, sie kosten kein Geld und machen keine Arbeit. Und in Island gibt es mehr davon als irgendwo sonst, davon ist sie überzeugt.
Der nordische Himmel:Auf der Esja fällt ihr auf, dass das Licht sich verändert, je länger die Schiffspassage dauert. Es wird reiner, ohne zu blenden, ein sanftes Leuchten, ein Glanz. Feierlichkeit überkommt sie, während sie an Deck steht, Stunde um Stunde, und der Dampfer die grauen nordatlantischen Wogen durchpflügt. Die Mitreisenden schlagen sich unterdessen die Bäuche voll, so viele fette Mahlzeiten, wie ihnen die Seeleute auftischen, haben sie lange nicht gesehen, manche noch nie. Fritzi isst wenig an Bord, sie trinkt viel Wasser und keinen Alkohol. Vor der Abreise hat ein Kapitän in Hamburg ihr erklärt: »Wenn du als Landratte aufs Meer hinaus fährst, halt dich die ersten Tage an Wasser schadlos.Andernfalls wirst du garantiert seekrank. Und das willst du nicht, glaub mir.« Sie befolgt seinen Rat und bleibt gesund. Im Gegensatz zu den meisten anderen Frauen. Die bekommen außer dem Speisesaal und der eigenen Kajüte nicht viel zu sehen auf der Reise.
Dieses besondere Licht, das sie auf dem Schiff verzauberte, begleitet Fritzi seither.Auf Bjarg ist es im Frühling und Sommer oft zu sehen, im Winter mit seiner arktischen Dunkelheit nur selten. Es lässt alles andere armselig erscheinen: besonders den Menschen und seine Besitztümer, seinen Stolz und seine Not, dabei verhöhnt es nicht, nein, es tröstet. Nach den tagelang anhaltenden Niederschlägen und den vielen düsteren Wachträumen im Bann des Todes fasst Fritzi neuen Mut. Sie hat gesündigt und gelitten, aber sie hat auch gute Tage gesehen, ereignislos und dabei erhaben in ihrer Schlichtheit. Einige auf Fehmarn, die meisten in ihrem zweiten Leben. Es könnten ja noch welche von der Sorte auf sie warten. Unwahrscheinlich, jedoch nicht ausgeschlossen. Dafür lohnt es sich aufzustehen.Alt zu werden, das ist ein einziges starrköpfiges Trotzdem.
Am 26. April 1949 erschien in den Lübecker Nachrichten ein Inserat: »Island will Arbeitskräfte verpflichten. Zweihundertdreißig Landhelferinnen gesucht.«
Möglichst ledig, stark und von ausgeprägt weiblicher Erscheinung sollten die Immigrantinnen sein. Das hat Liv bereits daheim via Internet herausgefunden, ebenso die Tatsache, dass aus mehr als zweitausend Bewerbungen, überwiegend von Männern, insgesamt zweihundertachtunddreißig Frauen für die Arbeit auf isländischen Bauernhöfen ausgewählt wurden. Auch sechsundsiebzig Junggesellen erhielten die begehrten Tickets zur Ausreise aus dem besiegten Land, wo wohl vom Aufkommen des Wirtschaftswunders noch nicht viel zu spüren war. Die Stimmung in der Heimat muss nach dem Krieg jedenfalls miserabel genug gewesen sein, um diese jungen Leute dazu zu bringen, einer ungewissen Zukunft in einem kargen Land entgegenzureisen.
Liv wünschte, sie könnte sich mit Tönges darüber unterhalten. Er hat ein gutes Gedächtnis und erinnert sich vermutlich lebhaft, wie es damals auf den Straßen der geschändeten Städte zugegangen ist. Stattdessen sitzt sie in Reykjavík einem Mann um die dreißig gegenüber, der den Zeitgeist jener Jahre ebenso wenig kennen dürfte wie sie. Ein schmaler Typ mit wenig ausgeprägten Zügen, äußerst unauffällig, abgesehen von seinem Zungenpiercing: ein vertikal in der Zungenmitte platzierter Silberstecker. Ragnar Kjartansson wurde ihr vom Historischen Institut der Universität als Experte für die Geschichte der deutschen Frauen in Island empfohlen. Laut ihrer Recherchen ist er auch als Rechtsanwalt und Elfenbeauftragter tätig. Was Letzteres bedeutet, hat sie sich so zusammengereimt: Im Auftrag von Baufirmen und lokalen Verwaltungen erstellt er Gutachten darüber,ob ein geplantes Bauprojekt auf Widerstand stoßen könnte, weil der Wohnsitz einer oder mehrerer Elfen davon betroffen ist. Denn die haben anscheinend in Island denselben Stellenwert wie in Deutschland irgendwelche seltenen Vögel, die, ebenso wie Elfen, zwar niemand je zu Gesicht bekommt, die aber dennoch die Planungen für zukünftige Straßen, Bahnstrecken oder Flughäfen zunichte machen können, sobald irgendein Ornithologe behauptet, es gebe Anzeichen für Brutplätze. Beweise: überflüssig,Artenschutz ist Trumpf.
Wie die deutschen Naturschützer – Liv kennt einige von ihnen, weil es auch gegen Sprengungen hin und wieder Proteste gibt – zeigt auch der Elfenkundler keinerlei Anzeichen von Humor. Er war ihr auf Anhieb unsympathisch, was unter anderem an der Duftkerze liegt, die auf seinem Schreibtisch brennt. Ein Vanillearoma. Welcher Mann benutzt so etwas?
Liv unterdrückt ein Gähnen. Die Unterhaltung in englischer Sprache gestaltet sich zäh, da Liv zu ihrer Bestürzung Schwierigkeiten hat, ihrem Gedächtnis die benötigten Vokabeln zu entlocken, zudem bereitet die Aussprache Mühe. Sie war überzeugt, ihr Schulenglisch sei noch absolut präsent, eine lästige Fehleinschätzung. Ihr Gegenüber teilt diese Probleme nicht, sein Englisch ist fließend, auch das Edelmetall in seinem Mund scheint ihn beim Sprechen nicht zu behindern.
Liv hat eine Frage fertig gebastelt: »Wie kamen die Isländer auf die Idee, ausgerechnet Deutsche anzuwerben? Waren die hier nicht ziemlich unbeliebt nach dem Krieg?«
»Nein. Jedenfalls nicht so sehr wie in anderen Teilen der Welt.«
»Wieso nicht?«
»Island gehörte zwar zu den Alliierten, war aber vom Kriegsgeschehen nicht direkt betroffen, und da wir nie eine Armee hatten, gab es auch keine isländischen Soldaten, die in Särgen zurückkamen. Das macht viel aus.«
Liv nimmt kurz die Sonnenbrille ab, um sich die Augen zu reiben. Es ist sehr hell in dem kleinen Büro in einem gläsernen Hochhaus an der Seebraut, der Küstenstraße am Sund von Reykjavík. Die Helligkeit staut sich nicht nur im Gebäude, sie unterwirft die Stadt, ergreift Besitz von jedem Winkel. Ein Licht wie ein Kampfschrei.
Ragnar betrachtet sie. »Du weißt, dass Island 1944, also mitten im Krieg, seine Unabhängigkeit von Dänemark deklarierte?«
Sie verneint.
»Dänemark war ein besetztes Land, und Island stand auf der Seite der Sieger, also ...«
Liv, gelangweilt, aber zu höflich, dem Mann ins Wort zu fallen, unterbricht ihn auf indirekte Weise, indem sie ihren Blick abwechselnd auf ihre Knie und auf einen Punkt an der Zimmerdecke richtet.
Er versteht. »Das interessiert dich nicht wirklich, oder?«
Keine Antwort.
»Okay, Liv, warum bist du hier? Am Telefon neulich sagtest du, die deutschen Einwanderinnen nach dem Krieg interessieren dich. Bist du Historikerin?«
Liv schüttelt den Kopf, und es fühlt sich an, als würde jemand mit einem Löffel großflächig etwas von der Schädeldecke abkratzen. Von innen. Sie hätte sich nicht von diesem Geir mit in die Stadt nehmen lassen sollen. Auch der Besuch der Hotelbar war eine lausige Idee.
»Ich bin .« Wieder muss sie auf der Suche nach dem englischen Begriff pausieren. »Granddaughter – Enkelin.«
»Oh . eine private Sache also.«
»Ja. Es ist sehr wichtig für mich.« Sie hat Mühe, offen zu sein, die nötige Vertraulichkeit herzustellen, aber es geht nicht anders. Schließlich will sie etwas von ihm. In knappen Worten umreißt sie den Sachverhalt und zeigt Ragnar sowohl das alte Klassenfoto aus Fehmarn als auch einige der Skizzen ihres Großvaters, damit er sich ein Bild von Inga machen kann. Ob-schon er nach eigenem Bekunden viele der deutschen Frauen kennt – oder kannte,denn die meisten sind inzwischen verstorben –, sagt ihm das Gesicht auf Anhieb nichts.
»Inga könnte natürlich auch ganz anders aussehen«, erklärt Liv.
»Oder bereits tot sein«, ergänzt er und fügt nach kurzer Überlegung hinzu: »Oder einen isländischen Namen angenommen haben.«
»Wie geht das denn?«
»Nun ja, in Island gibt es keine Familiennamen. Jeder trägt einen Vornamen und den Namen des eigenen Vaters, in Ausnahmefällen auch der Mutter, verbunden mit der Endung -son für Sohn oder -dóttir für Tochter. Oft werden zu Ehren der Großeltern in einem Clan immer wieder dieselben Namen verwendet: Ich heiße zum Beispiel Ragnar Kjartansson und habe meinen Sohn nach seinem Großvater, meinem Vater, Kjartan genannt.«
»Der heißt dann Kjartan Ragnarsson?«
»Exakt. So geht es oft über Generationen. Einwanderer, die mit einem traditionellen Familiennamen ins Land kommen, behalten diesen in der Regel. Manche der deutschen Frauen haben aber auch den Namen ihres Vaters oder, wenn sie einen Isländer geheiratet haben, den ihres Schwiegervaters angenommen – mit der Endung -dóttir, versteht sich.«
»Und warum?«, fragt Liv, weil ihr beim besten Willen keine geistreichere Frage einfällt.
»Sie wollten mit ihrem alten Leben abschließen. Wer auswandert, hat ja meistens ernsthafte Gründe. Seine Heimat verlässt man doch nicht einfach so. Etliche der Einwanderinnen beantragten schon nach kurzer Zeit die isländische Staatsbürgerschaft, die haben in Gesprächen mit mir nie gern über ihre Kindheit und Jugend in der alten Heimat geredet. Sie kamen her, lernten Isländisch, heirateten und integrierten sich in jeder Hinsicht vorbildlich, und zwar in einem rasanten Tempo.«
»Integration ist ja schön und gut.Aber warum wollten sie nicht von früher reden?«
Er hebt beide Hände. »Keine Ahnung. Wer weiß, was sie im Krieg erlebt haben und vergessen wollten. Außerdem haben viele bei ihrer Einwanderung gelogen, das ist ihnen sicher unangenehm gewesen, rechtschaffen, wie die meisten nun mal waren.«
»Inwiefern gelogen?«
»Sie hatten in ihren Bewerbungen angegeben, von Bauernhöfen zu stammen, Erfahrung in der Landwirtschaft mitzubringen.Auf die meisten traf das nicht zu. Sie wollten einfach nur weg.«
»Kamen die dann mit dem Landleben zurecht?« »Viele von ihnen ja.«
Liv versucht es sich vorzustellen: trister Alltag mit Rindern und Schafen, Gestank, harte körperliche Arbeit, dazu eine fremde Sprache, Einsamkeit, Kälte. Das Leugnen der eigenen Identität. Hat das den Neuanfang für diese Frauen erschwert oder erleichtert? Neuanfang – gibt es so etwas überhaupt? Wo doch fast jeder so viel Ballast mit sich herumschleppt, streng genommen ist man ja nicht mal bei der Geburt wirklich neu, sondern bloß ein frischer Aufguss alter Genplörre, sonst würden einem die Eigenarten nicht schon in die Wiege gelegt. Wäre es möglich, die Vergangenheit abzuschütteln, hätte Tönges kaum alle Jahre wieder Zeichnungen von Inga angefertigt. Der Gedanke daran deprimiert Liv. Wie einsam er gewesen sein muss. Wie einsam sie war, bevor Aaron in ihrem Leben auftauchte.
»Du siehst ein wenig mitgenommen aus«, stellt Ragnar fest.
Er bietet ihr Wasser an. Sie trinkt nacheinander drei Gläser leer, und es schmeckt außergewöhnlich frisch, nicht nur weil sie verkatert ist und einen Geschmack im Mund hat, als würde etwas in ihr verrotten.
»Hast du Passagierlisten von dieser Esja, mit der die Frauen eingereist sind?«, fragt sie anschließend.
»Nein. Außerdem kamen nicht alle auf der Esja, manche wurden auch auf Fischtrawlern hergebracht. Darüber gibt es keine Aufzeichnungen. Die Isländer sind keine sonderlich fleißigen Bürokraten, weißt du. «
»Sympathisch. Bloß schlecht für mich. Was meinst du, wie ich Inga finden kann?«
Ragnar kratzt sich am Hals. »Dummerweise ist Inga in Island ein sehr beliebter Name. Ich werde mich mal umhören. Einige der alten Damen aus Deutschland sind ganz gut auf mich zu sprechen. Mit etwas Glück sind sie bereit, sich mit dir zu unterhalten, wenn ich ihnen erzähle, worum es geht. Denen könntest du deine Bilder zeigen.«
»Das wäre nett. Du könntest ja auch deine Elfen befragen«, sagt Liv und meint es scherzhaft, aber seinem Gesicht ist zu entnehmen, dass sich Ragnar diese Art von Humor keineswegs auf Anhieb erschließt.
»Das könnte ich machen«, sagt er. »Natürlich nur, wenn du einverstanden bist.«
Was für ein Spinner. Liv erspart ihnen beiden eine Antwort.
Er verwechselt ihr Schweigen augenscheinlich mit Neugier. »Weißt du, wie die Elfenwelt entstanden ist?«, fragt er. »Keine Ahnung.«
Ragnar lehnt sich im Stuhl zurück und verschränkt die Hände hinter dem Kopf. »Als Gott einmal seinen Besuch bei Adam und Eva ankündigte, putzten sie ihre Kinder heraus, um ihm zu gefallen. Weil er aber sehr früh eintraf, wurden sie nicht fertig und versuchten, die noch ungewaschenen Kinder vor dem Allmächtigen zu verbergen. Was natürlich schiefging. Zur Strafe sorgte Gott dafür, dass sie fortan die dreckigen Kinder nicht mehr sehen konnten, und diese wurden die schönsten, reinsten und glücklichsten Kinder überhaupt. Seitdem leben sie und ihre Nachfahren in Ruhe und Frieden in einer geheimen Welt.Adam und Eva mussten sich unterdessen mit Kain und Abel herumschlagen – wir wissen beide, wie das endete.«
Nicht die schlechteste Geschichte, findet Liv. Auf unterhaltsame Weise gaga.
»Und du kannst sie sehen, die Elfen?« »Ja.«
»Wann hast du zuletzt eine gesehen?«
Schulterzucken. »Gegenfrage: Wann hast du zuletzt einen Vogel gesehen?«
Sie hat es doch gewusst: Elfenfreaks und Ornithologen gehören zum selben Schlag. Liv überlegt. »Kann ich dir nicht sagen.«
»Siehst du. So geht es mir mit den Elfen. Ihre Anwesenheit ist für mich etwas Normales, ich zähle sie nicht.« »Okay«, sagt Liv gedehnt.
Ragnar quält sich ein Lächeln ab. In seinem Mund blitzt das Zungenpiercing. »Du hältst mich für verrückt? Glaubst du ernsthaft, deine Umgebung, so wie du sie wahrnimmst, ist realer als meine?«
Hinter ihrer Sonnenbrille rollt Liv die Augen. Höchste Zeit, einen Strich zu ziehen: »Alright, Ragnar. Let's put an end to it.«
Drei Uhr nachmittags. Möwengeschrei. Liv hat im Hauptpostamt Telefonbücher eingesehen, ein hoffnungsloses Unterfangen, da sämtliche Teilnehmer mangels Familiennamen alphabetisch nach ihren Vornamen aufgelistet sind. Ortsvorwahlen existieren nicht. Wie zu erwarten war, gibt es zahlreiche Ingas auf dieser Insel, darunter keine Inga Engel. Zu viele Fremde für irgendwelche gestammelten Anrufe auf gut Glück.
Was also tun? Mittagessen in einer Sushi-Bar über einem Buchladen, anschließend ein Erkundungsspaziergang durch die hügeligen Straßen des Zentrums. Die frische Luft tut ihr gut, obwohl der Wind immer noch kalt ist, in Böen nadelspitz. Sie findet, Reykjavík ist ein seltsamer Ort, kleinstädtisch für eine Metropole mit internationalem Hip-and-Cool-Image, hier und da der großspurige Versuch, mit gläsernen Hochhausfassaden Weltläufigkeit zu demonstrieren, dazwischen brachliegende Grundstücke, Mietskasernen, aber auch hübsche, bunt gestrichene Holzhäuser, dem Skandinavienbild der Deutschen schmeichelnd.Auf den Straßen, in unzähligen Cafes und Kneipen allerhand junge Leute in schrägen, luftigen Klamotten, als lägen die Temperaturen nicht deutlich unter zehn Grad. Was ihr gefällt:An fast jeder Straßenkreuzung öffnet sich der Blick aufs Meer. Was ihr normalerweise nicht aufgefallen wäre:Auf den wenigen Bäumen tummeln sich Scharen von Spatzen.
Viertel nach drei nachmittags. Irgendetwas zwingt sie dazu, ständig auf die Armbanduhr zu sehen, als wolle sie sich vergewissern, dass die Zeit noch voranschreitet und demnach irgendwann in den nächsten Stunden die Sonne untergehen wird. Diese Lichtflut verwirrt sie.
Wie geht es weiter? Liv nähert sich der Hallgrimskirkja. Das protestantische Gotteshaus im Ausmaß einer Kathedrale oder eines Doms, errichtet auf einem Hügel mit Weitblick über Bucht und Berge, überragt alle anderen Gebäude der Hauptstadt. Ihr Hotel liegt genau gegenüber. Sie ist sehr müde, sehnt sich nach ihrem Bett, Gesprächspartnern, die nicht abergläubisch sind, einem Verdunklungsrollo und der Wahrheit.
Drei Uhr fünfzehn. Immer noch? Liv starrt auf das Zifferblatt an ihrem Handgelenk, tippt mit dem Zeigefinger gegen das Glas. Sie hat mindestens zwei Stunden geschlafen, vielleicht doppelt so lange. Der Sekundenzeiger bewegt sich nicht. Stehengeblieben. Das Gleiche gilt anscheinend für die Sonne, wie sie beim Zurückziehen der Gardine feststellt: von Dämmerung nichts zu ahnen.
Was bringt sie dazu, sich anzuziehen – Jeans, schwarzer Rollkragenpulli, Wintermantel –und das warme Hotelzimmer zu verlassen, um die Kirche zu besichtigen? Das hat sie noch nie getan, nicht einmal in Rom auf Hochzeitsreise mit Janko, der seinerseits keine Kapelle ausließ. Nicht zu leugnen: Da ist eine gewisse Anziehung, wahrscheinlich schiere Langeweile, denn was sonst soll sie tun in der fremden Stadt? Der nächste Termin mit einem Beamten vom Einwohnermeldeamt ist erst für den kommenden Morgen angesetzt. Sie könnte natürlich auch einen weiteren Abend mit Geir verbringen, er hat sie per SMS in irgendeinen Club eingeladen. Oder weiterschlafen, müde genug ist sie noch immer. Oder arbeiten, das Notebook hat sie dabei. Oder Aaron anrufen.
Doch sie tut nichts dergleichen.
Sie geht in die Kirche.
Nach ihrer Einschätzung das einzige Bauwerk auf der gesamten Insel, welches die Mühe wert wäre, es in die Luft zu jagen.Auf dem menschenleeren Vorplatz verharrt Liv. Der Wind,jetzt wieder eisig, zerrt an ihrem Haar. Zur Linken eine Statue, ein Krieger mit Axt und Kettenhemd, laut Inschrift der Entdecker und Nationalheld Leifur Eiríksson. In seinem Rücken ragt der Glockenturm, einem gewaltigen Stalagmiten gleich, gen Himmel. Nicht nur die Form, auch die weißlich graue Farbe der Fassade aus schlanken Betonstiften erinnert an die Tropfsteingebilde in Höhlen. Von weitem war Liv die Hallgrimskirche eher wie eine Schwester der Tafelberge vorgekommen, die Reykjavík nach Westen hin abschirmen: monumental, karg, widerstandsfähig. Wie die isländische Landschaft überhaupt, soweit sie das nach einem Tag Aufenthalt beurteilen kann.
Drinnen Gotik: hohe Wände mit großen schmalen Fenstern – erstaunlicherweise normal verglast –, geometrische Formen statt schnörkeliger Verzierungen, viel Tageslicht. Ein System aus Strebepfeilern und Bögen betont die Vertikale und sorgt für eine intakte Statik. Liv kramt die Sonnenbrille aus der Jackentasche und setzt sie auf.Außer ihr sind noch ein Dutzend Touristen in bunten Windjacken anwesend. Keine Gläubigen weit und breit.
Was tut sie hier?
Bevor Liv dazu kommt, zu ihrer Zerstreuung einen Abrissplan für den Sakralbau zu entwerfen, reißt der Klang der Orgel sie aus ihren Gedanken. Sie setzt sich auf eine der Bänke und lauscht, zunächst beifällig, weil die Ablenkung von der eigenen müßigen Lage ihr höchstwillkommen ist,dann zunehmend verstört. Nicht, dass der Klang der Orgel ungewöhnlich wäre, das Instrument tönt fein gestimmt und voll. Seltsam ist nur, was gespielt wird: eine Variation über Chopins Trauermarsch in Verbindung mit dem Metallica-Song »Nothing else matters« und Fragmenten der d-Moll-Toccata von Bach. Dazwischen freie Improvisation, düster und dissonant. Moderne Harmonien zersetzen die barocken Passagen. Auch die anderen Kirchenbesucher wirken etwas irritiert.
Liv sieht über den Altar hinweg aus dem Fenster. Wolkenloser Himmel, ein Blau wie aus Samt.Allmählich lässt die Sonne von der Stadt ab. Liv schließt die Augen, und die Musik fließt durch sie hindurch, pulsiert, vereinnahmt ihren Herzschlag. Eine angenehme Art, sich zu verlieren. Zumindest anfangs. Je länger das Lied andauert,desto intensiver wird das Gefühl zu ertrinken. Die letzten Takte: eine Hinrichtung. Explosionen in Weiß. Jedes Register gezogen, alle Tasten im Spiel. Es ist gespenstisch.
Die Stille nach dem Schlussakkord breitet sich aus wie die Staubwolke im Gefolge einer Gebäudesprengung. Sekunden der Benommenheit, dann Applaus, zwei Japanerinnen klatschen wie elektrisiert, bevor sie zum Spieltisch stürmen, der mitten im Kirchenschiff platziert ist. Liv, beinahe überrascht über die eigene Unversehrtheit, steht auf, wischt einen Anflug von Schwindel beiseite und geht langsam in Richtung Ausgang, vorbei am Tastenwerk, wo die Japanerinnen gerade den Organisten um Autogramme bitten.Als eine der Frauen Liv überaus freundlich und dabei doch zwingend auffordert, Fotos zu schießen, tut sie ihnen den Gefallen, obwohl die Situation ihr lästig ist. Andererseits: Sie hat ja Zeit.
Die Japanerinnen nehmen den Organisten in die Mitte. Durch den Sucher der Kamera kommt es Liv vor, als sehe sie ihn nicht zum ersten Mal. Ein junges Gesicht, dunkel, sie überlegt, ob er berühmt ist, ein Rockstar vielleicht, deshalb der Überschwang der Touristinnen.
Wie gewünscht, knipst Liv etliche Male und gibt danach die Kamera zurück. Mit beiden Händen, was angeblich in Japan als besonders höflich gilt, wie sie irgendwann irgendwo gelesen hat. Während man einander in Grund und Boden lächelt und dabei mehrfach nickt, bemerkt Liv, dass sie immer noch die Sonnenbrille trägt. Sie nimmt sie ab. So, befreit von Fotoapparat und Brillenglas, vollzieht sich der erste direkte Augenkontakt mit dem Organisten. Ein langer Blickwechsel, für Fremde geradezu unangemessen, bis die ungeheure Energiedichte zwischen ihnen Liv zuerst wegschauen lässt. Sofort, als hätte jemand einen Schalter betätigt, ist dieselbe Kraft wieder präsent, die Liv bereits bei seinem Orgelspiel erfasst hat. Eine Eingebung:Wenn er an der Kirchenorgel sitzt, befindet er sich an demselben Ort wie sie beim Singen.
»So etwas Krankes habe ich noch nie gehört«, sagt sie auf Englisch zu ihm, eine kleine heimliche Hommage an Janko und daran, wie er die Welt sieht.
Ihr Lächeln, ursprünglich für die Asiatinnen bestimmt, klammert sich auf unnatürliche Weise an den Lippen fest.
»Für die Beerdigung eines Freundes. Er wollte es so.«
»Tja, wer die Kapelle bezahlt, bestimmt die Musik«, murmelt Liv, diesmal auf Deutsch.
Der Organist lacht und wechselt ebenfalls die Sprache: »Du kommst aus Deutschland?«
Sie nickt, plötzlich blockiert, obgleich oder gerade weil sie sich durchaus wünscht, das Gespräch würde irgendwie weitergehen.Oder überhaupt erst richtig beginnen. Warum? Weil die Reibung seines Lachens und der Stimme sie in ähnlicher Weise vereinnahmt wie zuvor das Orgelspiel, ein Effekt, dem sie sich nicht entziehen kann und will. Weil sie nun nicht nur Energie, sondern auch Nähe spürt. Und weil es ihm genauso geht, das lässt sein Blick vermuten. Er wird seine eigenen Gründe haben.
Die Japanerinnen verabschieden sich. Ein letztes Winken, und Livs Gesichtszüge werden wieder normal.
»Es tut mir leid wegen deines Freundes.«
»Er war ein Mistkerl. Nicht nur die Guten sterben jung.«
Was für ein Thema. Entwicklungsfähig, aber nicht als Einstieg geeignet. Die verbale Kommunikation, natürlicher Gegner eines jeden Flirts, der auf biochemischer Anziehungskraft beruht, liegt am Boden. Liv räuspert sich, um sie anzuzählen.
Einmal räuspern heißt: Fällt dir nichts Besseres ein? Zwei Mal: Mir auch nicht. Drei Mal: Ich gehe dann mal.
Der Organist scheint zu kapieren. »Willst du auf den Turm?«, fragt er nach Livs zweitem Räuspern und klingt dabei ein wenig hektisch.
Und ob sie will. »Unbedingt.«
»Dann los.«
Ein Fahrstuhl bringt sie fast ganz nach oben, lediglich die letzten Meter bis zum Geläut müssen sie Treppen steigen.
»Praktisch«, sagt Liv, und als er sie verständnislos ansieht, fügt sie hinzu: »Der Lift.«
»Ja. Wir Isländer sind faul geworden.«
»Trifft das nicht auf alle modernen Gesellschaften zu?«
»Vermutlich.« Er reicht ihr die Hand. »Ich heiße Rúnar.«
»Liv Engel.«
Sein Händedruck ist erstaunlich zurückhaltend.
Sie stehen neben der Kirchenglocke, in einem quadratischen offenen Raum, es weht kräftig, und die Luft ist eiskalt rund siebzig Meter über dem Boden. Liv setzt die Kapuze ihres Fliegerparkas auf. Rinar trägt nur eine Fleecejacke, schwarz wie sein Haar. Obschon sie nicht klein ist, eins fünfundsiebzig laut Reisepass, überragt er sie deutlich.
»An dieser Stelle wird für gewöhnlich die Aussicht gewürdigt«, sagt er spöttisch.
Liv tritt ans Geländer, macht die Runde. Die Aussicht: rote und schwarze Dächer, Hafenanlagen, düstere Bergketten, Weite, tief im Westen Gletschereis, ein fast verblichener Sonnenuntergang im Meer, Schlieren von Rosa, Lila und Orange wie mit Pastellkreide in den Himmel gewischt.
»Hübsch.« Sie widmet sich einigen millimeterbreiten Rissen im Stahlbeton des Kirchengebäudes. »Frostschäden?«
»Ja, unglücklicherweise sieht die Kirche nur so aus, als wäre sie unverwüstlich. Der Turm ist keine vierzig Jahre alt, und jetzt steht schon die zweite Sanierung bevor.«
»Wieso wurde überhaupt Beton verarbeitet? Das hiesige Klima dürfte für die Planer doch kein Geheimnis gewesen sein. Hohe Luftfeuchtigkeit, häufige Frost-Tau-Wechsel, da sind natürliche Baustoffe Trumpf. Granit wäre zum Beispiel ideal.«
»Ich glaube, ursprünglich wollte man Basalt verwenden, da die Betonstifte in der Fassade Basaltsäulen symbolisieren sollen, wie sie in der isländischen Natur vorkommen. Das wäre vermutlich schlau gewesen.«
»Ganz gewiss. Warum hat man es nicht getan?«
»Zu teuer.«
»Und was kosten die Instandsetzungen?«
Schulterzucken. »Verzockt, würde ich sagen.«
Ein Windstoß sandstrahlt Livs Gesicht und sie sucht Halt an der Brüstung, wo ein Fangdraht Leichtsinnige und Selbstmörder vor dem Fall schützt.
»Gab es hier Suizide?«
»Zwei. Danach wurde der Draht angebracht. Sollen wir gehen? Dir ist kalt.«
So wie er das sagt, wird ihr gleich warm.
Der Organist: Dem Aussehen nach gehört er eher ans Mittelmeer als an den Polarkreis. Nicht nur der schwarzen Haare wegen, die ihm ständig in die Stirn fallen, auch sonst. Lediglich die Augen sind von lichtempfindlicher moosgrüner Farbe mit schlammbraunen Einsprengseln, und seiner Erscheinung fehlt zum Südländer das exaltierte Gehabe. Das macht ihn anziehend, ebenso sein Alter, jünger als sie, geschätzte dreißig und damit zum Glück nicht lächerlich jung. Sein Gesicht hat etwas an sich, dass sie es zwischen beide Hände nehmen möchte und ihn auf die Stirn küssen, ausgiebig, aber nicht zu fest.
Von daher ist Liv froh, dass die Begegnung nach der Turmbesichtigung nicht zu Ende ist und er ihr stattdessen Tee anbietet. Nicht gerade ihr Lieblingsgetränk, aber immerhin: Er will augenscheinlich auch verlängern. In einem nicht-öffentlichen Gemeindesaal serviert er ausgerechnet Pfefferminztee, genauer gesagt eine Tasse heißes Wasser mit einem Teebeutel.
»Du interessierst dich also mehr für Gebäudeschäden als fürs Abendrot«, stellt er fest.
»Berufskrankheit. Ich bin Ingenieurin und ...« Sie legt, wie immer an dieser Stelle, eine dramaturgisch günstige Pause ein. ». Sprengmeisterin.«
»Ach so.«
Ach so? Was soll das heißen – ach so? Liv ist andere Reaktionen gewöhnt, wenn sie ihren Beruf nennt, eigentlich schüttelt sie damit ein As aus dem Ärmel. Ihre beste Karte überhaupt. Rúnar tut ja gerade so, als würde er täglich mit irgendwelchen Astronautinnen, Formel-Eins-Pilotinnen oder Chemienobelpreisträgerinnen Tee trinken: völlig unbeeindruckt.
Er fragt, ob sie Zucker möchte.
Liv geht nicht darauf ein, sondern legt nach: »Schwerpunkt Bauwerkssprengungen.«
Er nickt gedankenverloren, besorgt ein Päckchen Würfelzucker und hält es ihr so lange hin, bis sie, ohne zu wollen, ein Stück nimmt.
Als er den Teebeutel über seiner Tasse abtropfen lässt, zittert seine Hand. Heftig genug, um eine kleine Überschwemmung auf der Tischplatte zu verursachen. Er sieht, dass sie es sieht, und fühlt sich eindeutig zu einer Erklärung genötigt:
»Meine Berufskrankheit.« Ein Schatten von Rot auf seinen wettergebräunten Wangen.
»Kein Wunder, so wie du spielst.Also bist du hier tatsächlich der Organist vom Dienst?«
»Kantor, ja. Womit wir etwas gemeinsam haben: Wir werden beide manchmal um Autogramme gebeten, nachdem wir gezeigt haben, was wir können.«
Liv ist überrascht. Er scheint sich gut auszukennen.
»Hab ich mal im Fernsehen gesehen«, beantwortet er ihre unausgesprochene Frage. »Sag, kommen wirklich Zehntausende von Zuschauern?«
Imponiert es ihm jetzt doch, womit sie ihr Geld verdient? Oder will er nur nett sein, weil er ihre Enttäuschung erraten hat?
»Ab und zu.Aber die meisten Aufträge sind natürlich eher unspektakulär.«
Sie trinken. Pfefferminztee mit Zucker ist eine scheußliche Angelegenheit. Konversation über Musik, gelegentlich unterbrochen von Isländern, die ihren Kopf zur Tür hineinstecken, um Rinar etwas zu fragen, Kollegen von ihm, wie Liv vermutet. Sie genießt es, wenn sich eine kurze Unterhaltung oder sogar eine Diskussion ergibt und sie, herrlich unbeteiligt, ohne ein Wort zu verstehen, zuhören kann, in die Melodie der fremden Sprache versunken. Wenn es nach ihr ginge, bräuchten sie und Rinar gar nicht miteinander zu reden. Sie ist von ihm als Mann mehr und mehr angetan, was ihre Fähigkeiten zum Small Talk weiterhin einschränkt, währenddessen er den Eindruck erweckt, mit seinen Ausführungen eigentlich auf ein anderes Thema abzuzielen und sich über den Weg dorthin im Unklaren zu sein. Gleichwohl: So erfährt sie von seinem Studium an einer deutschen Musikhochschule.
Als es an ihr ist, etwas beizutragen, um nicht kauzig zu wirken, erzählt sie von ihrer Band. Es ist schwierig, ihm eine Vorstellung von dem Projekt zu vermitteln. Wie soll sie Worte finden für Raum und Klang? Schließlich summt sie ihm eines ihrer Lieder vor. Dabei hat sie erstmalig das Gefühl, er würde sie annähernd mit derselben Hingabe betrachten wie sie ihn.
Dennoch: Liv ist entschlossen, sich nicht zu verlieben.Allein die Existenz der Möglichkeit ist ein außerplanmäßiges Ereignis und macht sie verlegen. Sie denkt an Max und an andere, die vor ihm da waren, manche schön, andere weniger, natürlich hat sie jeden von ihnen gern angeschaut, nur von Rinar kann sie ihren Blick nicht eine Sekunde abwenden. Sicher will sie mit ihm ins Bett, doch das ist nicht der Punkt. Sie begreift, sie ist allen Vorsätzen zum Trotz drauf und dran, sich in etwas hineinzustürzen, das die Bezeichnung heillosverdient. Wie kann das angehen? Liv ist dermaßen konfus, dass sie für den Moment sogar bereit wäre, an Geister zu glauben.
Sie ruft nie um Hilfe.Als es am Küchenfenster klopft und die Stimme des Nachbarn, hölzern wie eh und je, die Abendstille durchlöchert, versammelt Fritzi alle verbliebenen Lebensgeister auf ihrer Zunge, um laut und kräftig zu antworten. »Willst du zu mir? Das passt jetzt nicht. Komm ein andermal wieder.« »Wie geht es dir?« »Danke, gut.« »Alles in Ordnung?«
»Ja.« Lange wird sie das nicht mehr durchstehen.
»Ich habe deine Kühe gemolken. Sie haben geschrien. Soll ich die Milch vor die Tür stellen?«
»Ja. Oder behalt sie.« Verflixt und zugenäht. Die Kühe. Sie wird dem Nachbarn einen Kuchen backen müssen, sobald es ihr besser geht. Wenn er sie nur endlich in Frieden ließe.
»Ich hab die Pacht für deine Wiesen dabei.«
»Ein andermal.«
»Ist wirklich alles gut?«
Zorn weht durch ihren maroden Leib wie eine frische Brise. »Ja doch, und jetzt verschwinde gefälligst. Oder willst du etwa einer alleinstehenden Frau nachstellen?«
Das verschlägt dem Nachbarn für einen Moment die Sprache. Sie hört, wie er ums Haus schleicht, um vor dem Eingang stehen zu bleiben, er könnte einfach eintreten, das weiß er, es ist nicht üblich abzusperren. Seine Zweifel kriechen durch das nutzlose Schlüsselloch. Dann nähern sich die Schritte wieder dem Küchenfenster. Fritzi ist heilfroh, irgendwann die Gardinen zugezogen zu haben, die sie in der hellen Jahreshälfte meistens offen lässt, weil sie sich nicht sattsehen kann an der nordischen Landschaft dort draußen.
Als hätte sie es geahnt.
»Kannst du mir mal sagen, warum du da drinnen im Dunkeln hockst?«
»Es ist mein Haus und mein Licht.Außerdem ist es nicht dunkel.« Sie findet, allmählich wird er dreist.
Schweigen. Die Ratlosigkeit auf beiden Seiten des Fensters wächst. Fritzi kennt den Nachbarn, seit er ein Kind war, er ist kein Mensch schneller Entscheidungen.
Nach einer geraumen Weile: »Hör mal, ich gehe jetzt, es ist spät. Entschuldige die Störung. Wenn etwas ist, ruf an. Du hast ja meine Nummer.«
»Glück und Segen, mein Lieber. Und grüß mir deine Frau.«
»Jaja. Leb wohl.«
Endlich: Der Nachbar entfernt sich. Fritzi bekommt noch mit, wie er den Motor seines Landrovers startet, bevor sie vornübersackt, außerstande, sich noch länger wach zu halten.Auf wundersame Weise entledigt ihr Geist sich des Körpers und schwebt voller Abscheu über die Szenerie hinweg, deren Anblick dem Nachbarn erspart geblieben ist. Wie tief ist dieses Jammertal: Ein schmutziger Küchentisch, daran sitzt eine Frau auf einem Stuhl, Kopf und Oberkörper ruhen auf der Tischplatte, auf der ansonsten noch ein angelaufener Silberlöffel, ein Teller Erbsensuppe, kalt und fettig, die dazugehörige Konserve und ein halbes Brot zu finden sind.Aus dem Brotlaib wurden mit gierigen Fingern große Stücke herausgerissen und nur zum Teil verzehrt, überall Krümel. Verschmäht auch die Suppe, mit fahrigen Bewegungen direkt aus der Dose auf den Teller befördert, wobei ein Großteil danebenging. Flüchtig von oben betrachtet, hat die Frau etwas Mädchenhaftes, schmal, wie sie ist, sogar um die Hüften.Ja, sie könnte ein junges Ding sein. Wären die langen Haare, die verfilzt und ungewaschen in der Suppe hängen, nicht von den Wurzeln bis in die Spitzen ergraut.
Fritzis Seele fällt es schwer, in die sterbliche Hülle zurückzukehren, wer begibt sich schon mit Freude in einen derartigen Zustand, erträgt peinvolle Tage und Nächte, wenn die andere Möglichkeit schweben bedeutet? Wozu überhaupt dieses ständige Aufbegehren gegen etwas, das unausweichlich ist? Wieso nur hängt sie so sehr an ihrem kleinen Leben in seiner ganzen Ramponiertheit? Es wäre ein Leichtes: Sie könnte die Küche mitsamt der Unordnung, Bjarg und den Fluch hinter sich lassen, jemand anderes müsste aufräumen, während sie die Gletscher, die Seen und das Meer aus luftiger Höhe betrachtete. Doch was kommt danach? Leider lässt sich der Zustand von Haus und Hof auf ihr ganzes Dasein übertragen: Nichts ist bestellt. Sie ist weiß Gott nicht im Reinen mit sich.Auf dem Kirchplatz neben Jón in Frieden zu ruhen – das dürfte kaum gelingen. Fritzi ahnt: Wenn es etwas gibt, das schlimmer ist, als von einem Geist verfolgt zu werden, dann selbst einer zu sein, rastlos und traurig, eingekerkert in einem Verlies aus unstillbarem Rachedurst an den Lebenden. Und sie kennt sich gut genug, um eines sicher zu wissen: Sie wäre kein nettes Hausgespenst.Also kämpft sie weiter – und gewinnt die nächste Runde.
Fritzi kämpft sich zurück ins eigene Elend, den Gestank kalter Dosensuppe in der Nase. Was sie ansonsten wahrnimmt: Schmerzen,was sonst? Besonders am Hintern und in den Beinen.Hunger, Hautjucken. Dunkelheit. Dem fahlen Schein in der Küche nach zu urteilen, müsste es kurz nach Mitternacht sein.
Dass es ihr partout nicht gelingen will, wieder auf die Beine zu kommen, empfindet sie als persönliche Beleidigung – von wem auch immer. Nachdem der Weg vom ersten Stock ins Erdgeschoss bewältigt war, es ihr sogar noch gelang, Lebensmittel aus der Vorratskammer hervorzuholen, hat sie fest geglaubt, nun würde es wieder besser werden mit ihr.Aber mitnichten. Ihr Kreislauf spielt verrückt, die Hüfte ist steifer denn je, und sie sitzt am Tisch wie festgenagelt.
Fritzi überlegt. Hat der Nachbar nicht vorhin etwas von Milch gesagt? Doch, ganz sicher: Milch von den eigenen Kühen steht vor der Haustür. Gütiger Himmel: Milch! Der weiße Schaum auf der Oberfläche eines frisch gemolkenen Glases, das cremige Gefühl auf der Zunge, der Geschmack nach Reinheit und Leben schlechthin. Für einen winzigen Schluck würde Fritzi töten, und zwar jeden, egal, ob Freund oder Feind. Mit der Zungenspitze betastet sie ihre Lippen, trockene und rissige Wölbungen in einem Gesicht, dessen Haut so wenig Feuchtigkeit gespeichert hat wie die erodierten Böden der Hochlandwüsten. Daher das Jucken. Eigentlich ist es mehr ein Brennen. Sie könnte sich regelrecht blutig kratzen, hätte sie die Kraft dazu. Fritzi weiß, sie braucht die Milch, nur diese Köstlichkeit wird sie retten. Viel eher jedenfalls als kalte Erbsensuppe und altes Brot.
Der erste Versuch aufzustehen misslingt, ihr wird sogleich schummrig. Jetzt bloß nicht wieder das Bewusstsein verlieren. Die Küche dreht sich im Kreis, und Fritzi bleibt nichts anderes übrig, als abzuwarten, bis es aufhört. Diese Hilflosigkeit. Sie schreit dagegen an, ein kläglicher Schrei, aber wenigstens bringt er sie auf eine Idee: Gesang wäre gut. Singen richtet die Wirbelsäule auf, verbessert die Atmung und die Gemütslage.Also los. Das erste Lied, das sie sich ins Gedächtnis rufen kann, ist »Stille Nacht«, eine Melodie aus der Kindheit, vergessen all die Choräle aus ihrer Zeit im Kirchenchor. Es klingt schauerlich, erfüllt aber seinen Zweck. Das Drehen lässt nach, zuletzt wanken lediglich die Wände noch ein wenig. Das ist auszuhalten. Fritzis Hände klammern sich an der Tischplatte fest. Sie wagt es – und steht.
Vom Tisch zum Fenster, von dort an der Wand entlang zur Diele. »Holder Knabe mit lockigem Haar – schlaf in himmlischer Ruh.«
Geschafft. Fritzi öffnet die Haustür und ein Schwall salziger Seeluft schlägt ihr entgegen. Ein riesiger Vollmond über dem Meer, davor Wolkenfetzen in schneller Flucht.
Ohne nachzudenken, singt sie weiter, plötzlich gewinnt ihr Gesang an Klang und Tiefe. Fritzi stutzt. Der Geruch nach Leder. Das ist nicht ihre Stimme, der Braune steht im Schatten neben dem Stall und begleitet sie. In der Hand schwenkt er eine Milchkanne.
»Sing nur«, ruft er. »Ich habe auch gesungen, genützt hat es mir allerdings nichts, wie du weißt.«
Fritzi hält sich am Türrahmen fest. Dassder Móri spricht, ist äußerst selten. Sie antwortet nie.
»Durst?«, fragt er. »Lass uns geschwisterlich teilen, erst trinke ich, dann du.«
Woher kennt sie diesen Duktus?
Der Braune setzt die Kanne an. Sein widerwärtiges Schlucken. Fritzi kann die Gesichtszüge des Wiedergängers nicht sehen, wohl aber die Milch, die er verschüttet. Sie läuft über sein Kinn und den Mantel hinab, bis er in einer weiß glänzenden Lache steht. Wie hässlich er sein muss, deshalb verhüllt er sich, eine Missgeburt, abgrundtief böse.Als er fertig ist, dreht er den Behälter um, verschüttet die letzten Tropfen.
»Oh, so ein Pech. Da musst du wohl die Kühe melken.«
Fritzi spürt, wie eine erneute Ohnmacht nach ihr greift, und diesmal leistet sie keinen Widerstand. Doch die Ruhe ist nicht von Dauer. Sie erwacht bald darauf, weil ein Flüstern sie verstört: »Der Mond gleitet, der Tod reitet.«
Die Uhr tickt wieder. Liv hört die Zeit verstreichen, überlaut, jeden einzelnen Sekundenschlag. Sie blinzelt. Die Armbanduhr auf dem Nachttisch aus Birkenholz, eine dünne Staubschicht. Der Mann in ihrem Hotelbett, zerzaustes schwarzes Haar. Seine Stirn mit der steilen Zornesfalte zwischen den Brauen sieht aus, als könnte der Organist damit Betonwände einrennen ohne die kleinste Verletzung. Ein Schädel aus Stahl.
Lebhafter als die Eindrücke des neuen Tages sind die der vergangenen Stunden: Nähe und Licht, silberner Mitternachtssonnenschein auf fremder Haut, vertraut wie die eigene. Diese geheime Kenntnis voneinander, ohne mehr zu wissen, als man sich bei zwei Tassen Pfefferminztee in einem Gemeindesaal und einigen Gläsern Rotwein in einer Bar erzählen kann, war makellos.
Nach kurzem Zögern nimmt Liv Rúnars schlaffen rechten Arm in beide Hände, führt die Unterseite des Handgelenks an ihre Lippen und küsst ihn. Dort, wo Frauen Parfüm auftragen, um zu duften wie die weite Welt, riecht er nach Heimat. Sie weiß selbst nicht, wieso ihr dieses Wort in den Sinn kommt. Es jagt ihr einen Schrecken ein, und davon wird er wach, ein schlagartiges Erwachen, ein Sturz. Er klammert
sich am Laken fest, seine rechte Hand in ihrer Obhut ballt sich zur Faust, sie fühlt die Kraftübertragung der Sehnen.
»Was tust du da?« Er zieht seinen Arm zurück.
Keine Antwort, nur das Ticken der Uhr, minutenlang, dann wieder seine Stimme in schläfrigem Deutsch: »Verzeihung.«
Wofür entschuldigt er sich? Weil er den eigenen Körper einschließlich sämtlicher Extremitäten am frühen Morgen in einem unbekannten Bett lieber beieinander behält? Das ist nur zu verständlich.
Er wird genauer: »Ich hätte dich nicht einfach so ... abschleppen dürfen.«
Liv lacht auf. Typisch, diese männliche Arroganz.Als ob sie nicht schon das Bedürfnis gehabt hätte, sich mit ihm auf alles Denkbare einzulassen, während er noch in vollkommener Ahnungslosigkeit für irgendwelche japanischen Fotoalben posierte. Sicher, im Halbdunkel der polaren Frühjahrsnacht wagte er die erste Berührung, um für den Moment ein Paar aus ihnen zu machen, indem er nach ihrem Oberarm griff, den er mit seinen schönen langen Organistenfingern beinahe ganz umfassen kann, doch sie hätte den Arm ja wegziehen können so wie er gerade eben seinen. Stattdessen hielt sie der Umklammerung stand, bis die Wärme seines Körpers sich durch den Parka auf sie übertragen hatte und schließlich den gesamten zugigen Platz aufzuheizen schien, sodass sie im Sommerkleid hätte dastehen mögen. Die Hitze war schwül.
Als es ihr zu viel wurde, ließ er immer noch nicht los, dabei war er nicht bei ihr in Gedanken, sondern weit, weit weg, das war zu sehen – und es provozierte sie maßlos. So sehr, dass sie zur Gegenwehr ansetzte, anfangs vergebens, bis sie ihm indem Arm biss, die andere Hand im Parka verborgen, wo sie das Laguiole-Messer umklammerte, nur für den Fall einer weiteren Eskalation. Doch dazu kam es nicht. Stattdessen eine verblüffende Bemerkung von ihm, nach dem Ende des Gerangels: »Ich kenne deine Wut.«
So etwas Schönes hat ihr noch niemand gesagt. Stilles, atemloses Einvernehmen dann über den weiteren Verlauf der Begegnung: Umarmungen und Küsse unter dem Kirchturm, Pfefferminzgeschmack, Rotweinküsse im Gedränge neben der Theke einer hoffnungslos überfüllten Bar in Downtown Reykjavík, Gefummel unter einem Bistrotisch, seinerseits ziemlich hemmungslos.Alles schon mal dagewesen – alles neu. Plötzlich waren die Gläser klebrig, und der Wein schmeckte nicht mehr nur nach Merlot, zwischendurch auf dem Frauenklo ihr Bedürfnis, sich Haare und Kleidung zu richten .
Lieber Himmel, es ist ja unverkennbar ihr Hotelzimmer, in dem er jetzt liegt, splitternackt, wer hat also wen abgeschleppt, falls das überhaupt eine Rolle spielt? Und welcher halbwegs erwachsene Mensch benutzt dafür überhaupt diese Umschreibung?
Gut, es ist nicht seine Muttersprache. Liv muss sich beherrschen, um nicht zu verächtlich zu klingen. Ihre Antwort nach geraumer Zeit: »Ja, weiß Gott, du solltest dich schämen.«
Rúnar steht auf und geht ins Bad, leider erhascht sie nur einen flüchtigen Blick auf seinen nackten Körper, die glatte dunkle Haut. Er lässt die Tür offen, was sie zwingt, mit anzuhören, wie er den Toilettendeckel hochklappt, sich auspinkelt und spült. Anschließend rauscht die Dusche.
Vom Bett aus ruft sie ihm eine Warnung zu: »Das würde ich an deiner Stelle bleiben lassen. Mit der Leitung stimmt was nicht. Das Wasser stinkt ganz übel, ich muss es der Rezeption melden. Hab gestern nicht mehr daran gedacht.«
Er taucht im Türrahmen auf und lächelt sie an. »Danke für den Tipp.Aber mach dir keine Gedanken, das gehört so. Die südisländischen Haushalte werden mit heißem Thermalwasser versorgt. Es kommt direkt aus der Erde und enthält Schwefelwasserstoff, daher der Geruch. Man gewöhnt sich dran. Die Geothermalenergie heizt auch unsere Häuser und sogar die Bürgersteige im Winter, und das alles umweltschonend für kleines Geld. Genial, oder?«
Da ist er wieder, dieser freundliche Patriotismus, den sie schon im Flugzeug bei Geir beobachtet hat. Liv räkelt sich unter seinem Lächeln und betrachtet Rúnar in Ruhe, die etwas zu spitze Nase, die leicht nach innen gedrehten Knie. Ansonsten ist er perfekt.
»Ist Schwefelwasserstoff nicht giftig?«, fragt sie. »Es ist doch ein Fäulnisgas.«
Da er das Wasser nicht abgestellt hat, breitet sich der Gestank mittlerweile im gesamten Hotelzimmer aus.
»Nicht in dieser geringen Konzentration. Ich dusche täglich. Und hast du den Eindruck, ich wäre todgeweiht?«
»Sind wir das nicht alle?«
»Jedenfalls wird es nicht der Schwefel sein, der mir den Rest gibt.«
»Das kannst du nie wissen.«
Sie landen schließlich zu zweit unter der Dusche, danach schlafen sie erneut miteinander, was aus ihrer Zweisamkeit eine Affäre macht, eine Geschichte mit einem Anfang und einem noch offenen Ende. Der bindungsunwillige Teil von ihr registriert dies mit routinierter Wehmut. Von nun an wird man sich jedes Mal anders begegnen, Terrain abstecken, Erwartungen definieren, zumindest insgeheim, Vergleiche werden sich aufdrängen: die zweite Nacht mit der ersten, die Intensität der frühen Begegnungen mit denen, die folgen. Trotzdem hüpft ihr Herz vor Lust und Freude. Eine fixe Idee: Sie könnten füreinander bestimmt sein. Heimat oder Gelobtes Land? Oder alles Schwachsinn?
Später beim gemeinsamen Frühstück im Speiseraum des Hotels fragt er nach dem Grund ihrer Reise, und als Liv antwortet, sie suche ihren vermissten Großvater und dessen Schwester, zeigt sich Rúnar tief betroffen und bietet sofort seine Hilfe an. Ihr erster Gedanke: Gut – wir werden uns also oft sehen. Gleich darauf schämt sie sich dafür. Die Begegnung mit Rúnar darf sie unter keinen Umständen von der Suche nach Tönges ablenken. Sie riecht an ihrem Handrücken: ein Hauch von Schwefel.